Die digitale Transformation der Produktprozesse
Die Digitalisierung ist das Allheilmittel des 21. Jahrhunderts. Sie steigert das Bruttosozialprodukt – laut Accenture um bis zu 1,9 % pro Jahr.¹ Sie macht Unternehmen erfolgreicher und krisenfester, ihre Produkte „smart“ und ihre Entwicklung und Fertigung sowie den Betrieb effizienter. Darüber hinaus ermöglicht sie neue Dienste und transformiert Geschäftsmodelle. Zudem kann die Digitalisierung einen maßgeblichen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten.²
Digitale Transformation ist mehr als Digitalisierung
Digitalisierung und digitale Transformation werden oft synonym verwendet. Das ist nicht ganz korrekt. Digitalisierung beschreibt die Anwendung digitaler Techniken auf bestehende Geschäftsprozesse und -modelle mit dem Ziel, sie effizienter zu machen. Digitale Transformation hingegen geht weiter und nutzt diese Technologie, um die Prozesse zu verändern beziehungsweise durch neue Prozesse zu ersetzen. Ziel ist es, datengetriebene Geschäftsmodelle zu unterstützen.3 In jedem Fall ist die Digitalisierung der Geschäftsprozesse eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für die Etablierung neuer Geschäftsmodelle.
Von zentraler Bedeutung ist dabei der Produktprozess. Er umfasst nicht nur den Produktentstehungsprozess (PEP), sondern den gesamten Produktlebenszyklus von der Produktdefinition bis zur Abkündigung.4 Allerdings haben softwarehaltige, vernetzte Produkte und Produktionssystemen kein klares Lebensende mehr. Ihr Leben wird durch Software-Updates im Betrieb verlängert, und sie können ihre „Lebenserfahrung“ in Form von Sensordaten an die Entwickler*innen der nächsten Produktgeneration weitergeben.
Closed Loop-Engineering und Industrie 4.0
Die digitale Transformation ist keine Einbahnstraße, sondern ein Kreisverkehr. „Smarte“ Produkte und Produktionssysteme verändern nicht nur die Kundenerwartung und -erfahrung (Customer Experience), sondern auch die Art, wie sie entwickelt, gefertigt und gewartet werden. Sensorik und Vernetzung über das Internet der Dinge (Internet of Things, Abk. IoT) ermöglichen ihre Überwachung im laufenden Betrieb und eine vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance). Hersteller haben dadurch die Möglichkeit, das Nutzerverhalten in Echtzeit zu erfassen und auszuwerten. Diese Informationen können in die Produktentwicklung zurückgespielt werden, um die Produkte und Produktionssysteme gezielt weiterzuentwickeln und besser an die Kundenbedarfe anzupassen. Closed-Loop-Systeme sind geschlossene Rückkopplungssysteme, die das Konzept eines offenen Regelkreises als Vorwärtspfad verwenden, aber eine oder mehrere Rückkopplungsschleifen (daher der Name) oder Pfade zwischen ihrem Ausgang und ihrem Eingang haben.5 Im Kontext des Produktentwicklungsprozesses wird dieser Kreislauf kontinuierlicher Weiterentwicklung auch als Closed Loop Engineering6 bezeichnet.
Die digitalen Techniken verändern nicht nur die Produktentwicklung, sondern revolutionieren auch die industrielle Wertschöpfung. Für diese Revolution hat sich der Name Industrie 4.0 eingebürgert. Die intelligente Verknüpfung von Produkten, Maschinen, Anlagen und Logistikketten einschließlich der dazugehörigen Planungs-, Steuerungs- und Managementsysteme soll unter anderem – so das Konzept – eine autonome, sich selbst steuernde Serienfertigung von kundenindividuellen Produkten ermöglichen. Dabei erfordert die Simulation und Optimierung der Prozessabläufe einen kontinuierlichen Abgleich zwischen Planungs- und realen Betriebsdaten.
Ohne Digital Thread kein Digitaler Zwilling
Der Digitale Zwilling spielt eine zentrale Rolle für das Closed-Loop-Engineering und das Konzept von Industrie 4.0. Er schlägt die Brücke zwischen digitaler und realer Welt, indem er die digitalen Daten aus der Phase der Produktentstehung und Fertigung mit den Betriebsdaten des Produkts beziehungsweise der Produktionsanlage verbindet. Je nach Anwendungsfall kann es unterschiedliche Ausprägungen eines Digitalen Zwillings geben. Aber alle haben eine gemeinsame Basis: den Digital Thread. Ohne diesen digitalen roten Faden bleibt der Digitale Zwilling ein Waisenkind: Er ist laut Peter Bilello von CIMdata für die Verbindung jedes einzelnen Digitalen Zwillings über den gesamten Produktlebenszyklus unerlässlich.7
Der Digital Thread verbindet alle relevanten Informationen eines Produkts, die im Laufe des Produktlebenszyklus erzeugt werden, und ist somit die Voraussetzung für die Rückverfolgbarkeit (Traceability) des Produktprozesses. Diese Informationen verteilen sich über eine Vielzahl von Datensilos, angefangen von Werkzeugen für das Model-Based Systems Engineering (MBSE) über Product und Application Lifecycle Management-Systeme (PLM/ALM) sowie Enterprise Resource Planning-Anwendungen (ERP) bis zu IoT-Plattformen, auf denen die Betriebsdaten zusammenlaufen. Der Aufbau des Digital Thread ist deshalb in erster Linie eine Integrationsaufgabe bzw. eine Aufgabe der Datenverlinkung. Es kann nicht das EINE System für alle Prozesse und Domänen des Produktlebenszyklus geben.8, 9
Data Analytics, As-a-Service-Angebote und PLM fördern Nachhaltigkeit
Die Digitalisierung erzeugt riesige Mengen strukturierter und vor allem unstrukturierter Daten. Die Auswertung und Aufbereitung dieser Daten mittels verschiedenster Analytics-Methoden (Descriptive Analytics, Diagnostic Analytics, Predictive Analytics, Prescriptive Analatics)10 bildet die die Grundlage für neue Dienstleistungen oder neue ressourcenschonende Product-as-a-Service-Angebote. Unternehmen verkaufen zum Beispiel keine Flugzeugturbinen oder Lkw-Reifen mehr, sondern Flugstunden beziehungsweise gefahrene Kilometer und kümmern sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse darum, dass die Produkte möglichst lange halten und wenig Energie verbrauchen.
Zudem unterstützt das Product Lifecycle Management (PLM) nachhaltiges Wirtschaften durch zahlreiche Funktionen, die Transparenz ermöglichen – eine wesentliche Voraussetzung für das Gebot des Kreislaufwirtschaftsgesetzes für Aufbereitung und Wiederverwendung. PLM-Systeme geben Auskunft darüber, welche schwer oder nicht verwertbaren Bestandteile in Produkten enthalten sind und wie lange Kunden welche Produktvariante in welcher Konfiguration nutzen. Dadurch sie unterstützen Nachhaltigkeit von der Ideenfindung bis zum Nutzungsende. Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie Digitalisierung beziehungsweise die digitale Transformation und PLM für mehr Nachhaltigkeit sorgen.11, 12
Digitale Souveränität soll für Zukunftsfähigkeit und Resilienz sorgen
Daten sind der Treibstoff der digitalen Transformation, aber nur ein Bruchteil der weltweit erzeugten Daten wird tatsächlich verwertet. Vielfach sind sie nicht frei zugänglich, sodass die Gefahr besteht, von den großen digitalen Datensammlern abhängig zu werden. Das zu verhindern ist Ziel von Initiativen wie GAIA-X zur Schaffung gemeinsam nutzbarer, vertrauenswürdiger Daten-Ökosysteme.
Eine Herausforderung ist für viele Unternehmen aber auch die Schaffung der „Data Literacy“ für die Aufbereitung und Auswertung der Daten, zum Beispiel mit Hilfe von Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI). Die digitale Souveränität ist deshalb zu einem wichtigen Schlagwort in der politischen Digitalisierungsdebatte geworden. Sie soll die Zukunftsfähigkeit und Resilienz der europäischen Industrie sichern.13
Vereine, Verbände und Communities für Nachhaltigkeit
- PLM Green Global Alliance: A Community of PLM Professionals Collaborating for a Sustainable Low-Carbon Circular Economy (eingesehen am 19.04.2022)